07. November 2017
Machen Sie mutig mit in der digitalen Welt!
Augustinerpater Hermann-Josef Zoche zum Umgang der Digital Immigrants mit dem digitalen Wandel.
Digital Natives – das sind Menschen, die im digitalen Zeitalter aufgewachsen sind. Die haben schon als Kinder mit piepsenden und blinkenden Gadgets gespielt, die allesamt klingen wie die Flipperautomaten in den 70er-Jahren. Jede Quietscheente, die sie hinter sich herzogen, hatte schon ein elektronisches «Quak-Quak-Quak» von sich gegeben.
Wir anderen, die wir vor 1980 geboren sind, werden Digital Immigrants genannt. Die Geräusche unserer Spielzeuge mussten wir analog erzeugen: das kräftige Blubbern
eines Baggermotors oder die beschleunigenden Schaltgeräusche eines Rennwagens. Die Tafeln in unseren Schulen waren grün. Die quietschende Kreide war weiss und pulvrig. Wir hatten noch Mathelehrer, die nach dem virtuosen Gefuhrwerke an der schlecht geputzten Tafel Kreidestaub auf dem Sakko hatten oder eine gelbe Nasenspitze von der farbig gezeichneten Hypotenuse, deren Länge wir errechnen sollten. Unsere Hände stanken nach dem widerlichen Tafellappen. Welche Freude war es, mitten im Unterricht Kreide aus der Nachbarklasse holen zu dürfen.
Wir hatten keine weissen Smart Boards in den Klassenzimmern, jene interaktiven 220-Volt-Tafeln mit USB-Eingang, eingebautem Kurzdistanzbeamer, Touchscreen, Audiosystem und Plug-and-play-Funktion, die nicht mehr gewischt werden müssen, sondern auf Knopfdruck «sauber» sind.
Für die Digital Natives ist selbstverständlich, was wir mit offenen Mündern bestaunen. Sie können sich nicht mehr zurückversetzen in ein analoges Zeitalter, wo man als Student einmal die Woche aus der Telefonzelle zu Hause anrief.
Die Menschen verändern sich in der digitalen Welt. Die digitale Wahrnehmung verändert die Aktivitätszonen des Gehirns. Sie ergreift den Menschen und formt ihn. Ein Beispiel: Beim informellen Lesen am Bildschirm sind nur einige wenige Stellen im Gehirn aktiv. Informelles Lesen ist schnell, effizient, kurzzeitig, emotionslos. Gehirnscans von Menschen, die einen Roman lesen, zeigen ganz andere zerebrale Aktivitätsmuster, selbst dann, wenn der Roman mit einem Reader gelesen wird. Es ist viel mehr los im Gehirn, langsam, emotional, fantasievoll.
Eines aber ist immer derselbe Anspruch: Der Mensch ist ein Lernender – ganz gleich in welcher Welt. In Geschichte sollen keine Geschichtskenntnisse erworben werden, sondern anhand von erworbenen Geschichtskenntnissen soll erlernt werden, in geschichtlichen Prozessen zu denken; in Deutsch sollen die Schüler nicht Deutsch lernen (nur am Anfang), sondern sollen lernen, wie sich bestimmte Phänomene der Gesellschaft in der Literatur ausdrücken; in Mathematik sollen sie nicht rechnen lernen, sondern das Denken in organisierten geistigen Strukturen; in Religion sollen sie nicht religiöse Inhalte lernen, sondern sollen religiöse Inhalte als Zeugnisse des Glaubens verstehen lernen.
Die Inhalte werden im digitalen Zeitalter anders vermittelt (Self-learning-Angebote, Tutorials bei YouTube etc.), aber es geht immer noch um das gute alte Lernen,um Neugier, ums Wissenwollen, ums Forschen – und um einen Geist, der unbändig vorwärtsdrängt. Machen Sie mutig mit in der digitalen Welt! Beim Schiffbruch ist es zu spät, schwimmen zu lernen.
Hermann-Josef Zoche ist Augustinerpater, Philosoph und Managementberater.
Diese Kolumne ist erstmals im twice Herbst 2017 erschienen.
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